Mittwoch, 10 April: Via Buffalo nach Chicago
Ich sitze auf einer Bank an einem völlig heruntergekommenen Busbahnhof in Niagara Falls. Wer hätte gedacht, dass dieser Ort, den ich nur von den schönen Wasserfällen und allen (für Touristen) gephotoshoppten Bildern kenne, so ein schäbiger hässlicher Ort ist. Hätten wir bei Wikipedia etwas besser nachgelesen, hätten wir erfahren können, dass dieses Städtchen zu den Städten mit der höchsten Kriminalität im Staat New York gehört und die Wirtschaft in viel schlechterer Verfassung ist als im kanadischen Teil der Stadt. Städte, die durch eine Grenze getrennt sind, geben immer einen guten Hinweis darauf, welches Land sich besser um seine Bürger kümmert (siehe z. B. das Buch "Why Nations Fails").
Wie auch immer, jetzt sind wir noch da, in der Stadt Niagara Falls und sitzen gemeinsam draußen auf einer Bank, weil man sich im Busbahnhof nicht gut aufhalten kann: Dort stinkt alles nach Rauch, schlimmer als in einer Kneipe. Gestern wars ähnlich. Als wir gegen 21 Uhr hier ankamen, mussten wir auch lange warten, denn der Bus war zu früh losgefahren, vor unserer Nase weg. So mussten wir gestern eine Stunde oder so auf den nächsten warten. Auch gestern trieben sich hier seltsame und verirrte Leute herum: Eine betrunkene Frau war da und unterhielt sich (brüllend) mit zwei Leuten, die beide ziemlich high waren (vom Kiffen). Sie schien sogar für die Busfirma der Stadt hier zu arbeiten, das konnte man an ihrem Namensschild erkennen. Ein kleiner Junge von etwa 10 Jahren gesellte sich ebenfalls zur Gruppe, offenbar war er es hier gewohnt. Wenig später tauchte ein großer, fetter, amerikanischer Benzinschlucker von einem Auto auf. Jemand stieg aus. Dann näherte sich auch jemand aus einer versteckten Ecke, ein rauchender Mann mit einem Kind, es schrie herum im Kinderwagen, er stieg mit dem Kind ein. Dann kam aber unser Bus, wir konnten nicht mehr sehen, was weiter so geschah, aber wir waren froh, dass wir wegkamen.
Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, dass diese Bushaltestelle auch ein Ort war, an dem sich Menschen trafen. Also hatte sie vielleicht wirklich die Funktion einer Kneipe. Mir ist auch aufgefallen, dass viele Leute hier miteinander reden; einfach aufeinander zugehen und dann anfangen, miteinander zu quatschen. Das ist eigentlich eine schöne Sache und etwas, woran ich und Elli uns erst noch gewöhnen müssen: Die Leute kommen einfach so auf einen zu, fragen einen, woher man kommt. Sie fragen auch sehr schnell nach deinem Vornamen, was in Europa etwas sehr persönliches ist, nach dem man nicht so leicht fragt. Sie sagen darauf etwas wie "Rafael, es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen". Genauso kam jetzt auch eine verirrte Person, eine Art Semi-Obdachloser der auch auf den Bus wartete, auf uns zu, um ein solches Gespräch zu führen. Eigentlich sehr freundlich. Doch jedes Mal bin ich misstrauisch und es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass die Person, die auf mich zugeht, nur reden und sozial sein will. Vielleicht tun sie das auch, weil sie eine Art Sicherheit schaffen wollen: Man hat sozusagen schon ein paar Worte gewechselt, weiß schon ein bisschen mehr voneinander, und dann ist die Atmosphäre ein bisschen ruhiger. Ich weiß es nicht, ich stelle hier nur mal ein paar Theorien auf.
Egal, weiter mit der Geschichte. Wir warteten also wieder, zum zweiten Mal, um genau zu sein, am heruntergekommenen Busbahnhof in Niagara Falls. Diesmal machten wir uns aber auf den Weg nach Buffalo. Und jetzt waren wir auch ein bisschen besser vorbereitet. Wir hatten gelernt, dass es besser ist, Bustickets mit einer App zu kaufen, denn an den Automaten hat man oft nicht alle besten Tickets (wie das Tagesticket, das oft fehlt, aber in der App vorhanden ist) und beim Busfahrer kann man fast nie ein Ticket kaufen. Übrigens hätten wir auch einfach ohne Ticket fahren können: Wir haben schon oft gesehen, wie eine armer Mensch einsteigt und sein ungültiges Ticket auf den Scanner legt, ein lautes Fehlergeräusch "biiiips" ertönt und der Fahrer und der Kunde schauen sich gegenseitig wissend an, worauf der Fahrer nickt und der Kunde einfach in den Bus geht. Im Grunde kann man also auch ohne Fahrschein fahren hier. Aber Elli und ich zahlen einfach, wahrscheinlich, weil wir nicht anders können (denn wir sind das wahrscheinlich so gewohnt und halten es für richtig oder so), aber auch, weil wir den öffentlichen Nahverkehr hier unterstützen wollen: der bekommt sowieso viel zu wenig Geld, was man an den ganzen veralteten Bussen und Fahrkartenautomaten sieht.
Jedenfalls sind wir also gerade dabei die Niagarafälle wieder zu verlassen! Aber vielleicht sollte ich zuerst was über unseren Besuch an die Stadt und vor allem an den Niagarafällen erzählen. Also, Entschuldigung, spulen wir zurück zu unserer Ankunft: Am 9. April sind wir mit einem Amtrak-Zug angekommen. Wir sind 3. Klasse gefahren (würde ich mal behaupten), also nur mit einem Sitz zum Schlafen.... und unterwegs fuhren wir durch die endlose Prärie... besuchten kurz das Dorf Amsterdam.... fuhren durch Rochester... und erreichten schließlich den kleinen Bahnhof von Niagara Falls:
Von dort aus liefen wir etwa 20 Minuten zu dem bereits erwähnten obskuren Busbahnhof. Auf dem Weg dorthin stießen wir auf ein paar leerstehende Gebäude, die bereits einen Hinweis auf die wirtschaftliche Situation hier gaben, aber sie waren hübsch dekoriert:
Am zum Scheitern verurteilten Busbahnhof nahmen wir den Bus zu unserem Motel, der "Icono Lodge".
Was sind Motels? Motels sind nur ein bisschen billiger als Hotels oder Pensionen in Europa. Außerdem liegen sie (wie im Grunde alles andere auch) an einer Hauptstraße. Der Unterschied zu einem normalen Hotel besteht eigentlich nur darin, dass alles um den Parkplatz herum gebaut ist. Der Parkplatz mit den Autos ist das Epizentrum eines Motels und der Rest spielt sich sozusagen darum herum ab. Wie eine Art deutscher 2-Seiten-Hof geht das Gebäude um den Parkplatz herum. In der Mitte des Parkplatzes gibt es dazu oft einen kleinen Swimmingpool. Da kann man dann schön neben geparkten Autos baden oder so (yeah!).
Abgesehen davon ist es so ziemlich dasselbe wie in einem billigen Hotel: man schläft dort und hat eine Art Frühstück.... ah, da gibt es aber noch einen Unterschied. In einem Hotel in Deutschland oder den Niederlanden gibt es oft eine Art Buffet im Hotel. Da gibt es oft Obst, Joghurt und belegte Brötchen. Es gibt Tee, Kaffee, heisse Schokolade, alle Arten von Marmelade und dann diese Platten mit Käse und Fleisch, die man mit einer dieser langen Gabeln abstechen muss, während eine Reihe von hungrigen Menschen hinter einem steht und ungeduldig auf dich wartet. In einem Motel ist das nicht so. In einem Motel gibt es eine Art Kaffeemaschine, die wässrigen Kaffee produziert oder auch wässrige heisse Schokolade oder heißes Wasser (für Tee), und dann gibt es all diese Plastikbecher mit Butter, Marmelade und Erdnussbutter. Es gibt auch Bagels (!) und Toastbrot. Außerdem gibt es noch eine Waffelmaschine: ein seltsames Gerät, in das man Teig einfüllen muss, was man vorher aus einem großen Plastikbehälter in einen Plastikbecher abgefüllt hat. Der Plastikbehälter mit Teig sieht aus wie ein Bierfass und hat auch einen Zapfhahn (aus Plastik). Den Teig gießt man über das Waffeleisen und dann wartet man, bis eine Art automatischer Alarm losgeht... dann holt man sich das Ding (die Waffel) heraus. Darauf öffnet man drei Behälter mit Marmelade und leert sie über die Waffel. Natürlich macht man das alles auf einem Einweg-Pappteller. Dann verschlingt man alles mit Plastikmesser und -gabel. Komischerweise sind bei so einem Motel-Frühstück gar nicht so viele Leute dabei, vielleicht mag nicht jeder es so sehr.
Jedenfalls würdest du danach, als typischer Amerikaner, also nach deinem kohlenhydratreichen Frühstück, mit deinem dicken Auto irgendwohin fahren, um noch mehr zu essen oder dir die Niagarafälle, also diese gigantischen Fälle, anzusehen. Danach ziehst du dann weiter zum nächsten Motel oder so. So stelle ich mir das vor. Aber wir hatten leider kein Auto. Also sind wir zu Fuß gegangen. Auch weil wir ein bisschen mehr von der Stadt sehen wollten: Wir pakten uns ein par kleine Rucksäcke mit was zu trinken ein und liefen dann eine hässliche große Straße entlang, dabei kamen wir an einigen Industrieanlagen vorbei ....
und gelangten schließlich in eine Art bewohnbares Gebiet. Dort sahen die Häuser zwar nett aus, aber manchmal schien das Leben ziemlich arm zu sein....
Auch hier waren die Leute sehr kontaktfreudig und wollten sich mit uns unterhalten, sobald sie uns sahen. Es waren jedoch nicht viele Menschen auf den Straßen. Wir trafen nur auf ein paar Autos, sehr viele Eichhörnchen, ein paar schöne Vögel, wie den Blauhäher, den wir leider nicht fotografieren konnten, und auch ein paar ziemlich große Wachhunde. Eine Frau, die sich gerade mit ihrer Nachbarin unterhielt, rief uns auf der anderen Straßenseite eine Frage zu. Ob wir ihre Katze gesehen hätten. Hatten wir leider nicht, also zogen wir wieder weiter.
Schließlich sahen wir das Zentrum der Stadt Niagara Falls vor uns auftauchen: Ein riesiges Kasino namens "Seneca" (wie ironisch, hat nichts mit stoischer Philosophie zu tun, wohlgemerkt) mit einer Menge geschlossener Touristenläden drum herum. Vielleicht blühen die hier wieder auf, wenn es Sommer ist und die Saison hier losgeht, wer weiss.
Uns vielen auch einige Gebäude auf, die im so genannten "brutalistischen" Baustil gebaut waren. Diese Gebäude hatten oft überhaupt keine Fenster! Später in Buffalo erfuhren wir, dass sie so gebaut wurden, in der Hoffnung, dass "die Menschen sich dann besser konzentrieren konnten", d. h. weniger abgelenkt werden.
Nachdem wir ein wenig herumgelaufen waren, fanden wir den Weg zum Fluss "Niagara". Dort bekamen wir eine Menge schöner Natur zu sehen. Das erste, was wir sahen, war ein schöner Vogel, ein Rotflügelstärling:
Elli war ganz angetan von dem Vogel und seinem Balz und zückte dann plötzlich ein riesiges Kameraobjektiv hervor, von dem ich gar nicht geahnt hatte, dass wir es dabei hatten. Daher haben wir also jetzt diese scharfen Vogelfotos.
Wir gingen noch ein Stück weiter und trafen auf ein paar Kanadagänse und etwas, das wie Nutria aussah. Wir sahen auch die immer stärker werdende Strömung des Flusses und vor uns hing ein weißer Nebel, der Dampf, den der Fluss am Wasserfall erzeugte.
Zuerst gingen wir den "Riverway" entlang, dann überquerten wir die Fußgängerbrücke zur "Goat Island", und als wir zur "Luna Island" gingen, sahen wir den riesigen Wasserfall vor uns auftauchen. Es war ein seltsamer Gedanke, so viel Wasser fließen zu sehen und in die Tiefe donnern zu hören. 3.160 Tonnen Wasser pro Sekunde.
Es war unglaublich.
Wir besuchten dann die "Höhle der Winde", in der Hoffnung, wir könnten dann hinter dem Wasserfall stehen, in einer Art Höhle hinter dem Wasserfall. Leider mussten wir aber feststellen, dass dies nur im Sommer möglich ist. Allerdings gab es ein lustiges kleines Museum darüber, wie Nikola Tesla hier als erster die Kraft des Flusses nutzte, indem er mit seinen Generatoren Wechselstrom einfangen konnte. Das war irgendwann in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Von da an entstanden rund um die Niagarafälle verrückte Elektrizitätswerke, die alle das Potenzial des Wasserfalls ausnutzen wollten.
Es wurde überall so hässlich, dass in den frühen 1880er Jahren eine Bewegung namens "Free Niagara" entstand. Um 1883 fand die Bewegung Gehör und der Niagara-Fall wurde zum ersten "Nationalpark" (State Park) der USA. Das bedeutete übrigens nicht, dass die Stromerzeugung eingestellt wurde: Die Fälle produzieren immer noch 4 Millionen Kilowatt, die sich die USA und Kanada teilen. Das kleine Museum informierte uns auch über die Anzahl der Wagemutigen, die versucht haben, in Fässern den Wasserfall hinunterzustürzen: die Todesrate scheint dabei recht hoch zu sein, ich glaube, mehr als die Hälfte. Der erste Mensch, der es schaffte und überlebte, war eine Frau im Jahr 1901. Ihr Name war "Annie Edson Taylor".
Die Felsen der Niagarafälle sind übrigens voller Vögel, weil sie in den Felswänden und an den Ufern nisten. Leider sahen wir nur Möwen und gelegentlich einen Kormoran. Auffälligerweise wimmelte es aber nur so von Schlangen auf den Felsen! Ich befragte einen der Mitarbeiter dazu, der mir antwortete, dass es sich um "Garter Snakes" (Strumpfbandnattern) handelte, also nichts Besonderes hier in der USA. Die Wikipedia-Seite über diese Tiere ist jedoch recht interessant.
Wir hatten also eine schöne Zeit in Niagara falls, zumindest an den Wasserfällen, fanden die Stadt aber eher traurig. Und so sind wir jetzt auf dem Weg nach Buffalo. Von dort aus fahren wir dann über Nacht mit der Amtrak nach Chicago.
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